Thursday, April 24, 2014

Constantin Frantz: Offener Brief an Richard Wagner


Volltext aus dem Bayreuther Blätter, Juni 1878. Constantin Frantz (12. Sep 1817 – 2. Mai 1891) gehört ursprünglich um den Junghegelianer wie Max Stirner, David Strauß, Ludwig Feuerbach, Arnold Ruge sowie Marx und Engels. Später aber tritt Frantz von Hegelianismus zurrück und ging zu einer reaktionäre schellingianische Seite über. Wagner hielt aber Schelling für einen »Scharlatan« (Cosimas Tagesbüch 26te November 1880), und damit kam seine Beziehung mit Frantz zu ende. Bevor ihr spätere Entzweiung, Wagner hat die 2te Auflage von Oper und Drama an Frantz gewidmet.

Vorwort zur zweiten Auflage von Oper und Drama.
Gewidmet an Constantin Frantz.

In seinem Offenen Brief an Richard Wagner erblickt man viel über die politische Gedanken von dem oft misverstanden späten Wagner—das sogenannte »deutsche Mißversständnis«. Es ist klar, daß Wagner gehört als Denker stets um den Linkshegelianer. Man kann ganz klar lesen wie Wagner die Pangermanismus eines Grossdeutschlands unter die Spitze des Preussischen Säbels scharf kritisierte. Das war eine Kritik von den rechstspolitische Gedanken, was später in den Nationalsozialismus verwandelte hat. Es wird oft vergessen, daß Wagner auch ein Pazifist war, und diese berühmte Ausdruck »Metapolitik« steht im ausgeprägten Gegensatz zu »Realpolitik«: für Wagner und Frantz, echte deutsche Politik mußte ideal statt real sein. Deutschland darf nur die Welt erobern wie die Musik Bachs: eine ideale und metaphysische Eroberung. Hier muß die wahnsinnige Idee einer militärischen Eroberung unter der Leitung von der Preussischen Pickelhaube als »undeutsch« ganz verzichtet werden.

Die zahllosen Fehler von dem OCR Software sind hoffentlich alle schon korrigiert worden. Die Schreibweise wird auch modernisiert.

[Complete text to Young Hegelian thinker, Constantin Frantz's Open Letter to Richard Wagner, published in the Bayreuther Blätter in June of 1878. Wagner had previously dedicated the second edition of Opera and Drama to Frantz (12 Sep 1817 – 2 May 1891). This letter gives us a powerful glimpse into the late political thought of Wagner. Sorry, but writing out a full translation is just too much hard work. If I did write a translation I would probably publish it formally. It took me long enough just to scan the pages, before running them through a German language friendly OCR, only to find myself having to unscramble the still horribly garbled German that came out. Please note that this post is preparatory groundwork for an English language synopsis and discussion of Frantz's essay, intended for a planned future post. Those of you who do read German should find this something of a revelation as it totally explodes many of the myths about Wagner. More to come in a future post.

EDIT: my extended commentary and discussion of the Open Letter in English with length block quotes in my original translation has now been posted]



S.149

Offener Brief an Richard Wagner

von Constantin  Frantz


Hochgeehrtester Herr!

Was ist deutsch? fragten Sie im zweiten Hefte dieser Blätter, und äusserten darüber Ihre Ansicht. Wie Ihnen dann aber in dem neuen deutschen Reiche so manches entgegentrat, dessen Deutschheit Ihnen nicht recht einleuchten wollte, haben Sie schliesslich mich mit der Aufforderung beehrt, doch auch meinerseits ein Votum in dieser Frage abzugeben. Ich will solcher Aufforderung gern nachkommen, nur müssen Sie mir gestatten, die Frage von der Seite aufzufassen, nach der allein dieselbe zu behandeln ich mich befähigt erachten darf, — von der politischen Seite. Fürchten Sie gleichwohl  nicht, meine Erörterungen  mochten dadurch zu weit von dem Gebiete abführen, dessen  Betrachtung unmittelbar die Bayreuther Blätter gewidmet sind. Ich beabsichtige vielmehr zu zeigen, wie eine wahre deutsche Politik selbst der Kunst verwandt sein wird, indem sie, über die Fragen der

[S.150]

blossen Macht oder der materiellen Interessen weit hinausgehend, die allgemeinen Aufgaben menschheitlicher Entwicklung ins Auge fassen, und derselben zu dienen beflissen sein soll Auf ideale Ziele wäre also solche Politik gerichtet. Ist es andrerseits die Bestimmung der Kunst, von dem Idealen ausgehend, dasselbe durch sinnliche Mittel zur Anschauung und zur Empfindung zu bringen, und damit die Geister der Menschen aus ihrer Versunkenheit in die Engen und Nöten der empirischen Welt hinaus zu heben, so kann es im Verlauf der Dinge nicht fehlen, dass Kunst und Politik sich vielfach begegnen.

Nach dieser vorläufigen Erklärung finde ich nun den universalen Charakter wahrer deutscher Politik schon damit angezeigt, dass es unstreitig einst das Auftreten der germanischen Völker gewesen, infolge dessen auf den Ruinen der in sich selbst abgestorbenen antiken Welt sich allmählich die ganze neuere Zivilisation entwickelte. Ist dann wieder die deutsche Nation als der Kern des ganzen Germanentums anzusehen, so bildet Deutschland, auch geographisch betrachtet, den Kern des europäischen Kontinents. Die Natur selbst hat es zu dem Boden gemacht, auf welchem die grossen europäischen Geschicke ihre letzte Entscheidung finden; Deutschland ist eben das Land der Mitte, es umfasst die Zentralorgane des europäischen Körpers. Auf den Alpen als auf seiner Grundfeste ruhend, sendet es seine Wasser einerseits durch die Donau dem Pontus zu, damit auf die gemeinsame Wiege der Menschheit, den Orient deutend, während hingegen der Rhein durch die Nordsee auf die transatlantische neue Welt hinweist, auf den Westen, und zwischen Ost und West vollzieht sich die Weltgeschichte.

Hat man neuerdings die Entdeckung gemacht, dass zwischen Rhein und Donau eine natürliche unterirdische Verbindung besteht, so ist es auch gerade das Gebiet zwischen Rhein und Donau, auf welchem von Anfang an unsre Geschichte spielt. Zeuge dessen selbst die Nibelungensage, indem sie zuletzt sich in König Etzels Land verläuft Von da her waren vordem die Goten gekommen, wie andererseits die uralischen Horden: die Hunnen, die Avaren, die Magyaren, wie zuletzt die Türken, die doch zweimal vor Wien gelegen, indessen ihre Renner und Brenner bis Regensburg streiften. So scheint wohl, dass die Zukunft der mittleren und unteren Donauländer auch für die deutsche Politik kein gleichgültiger Gegenstand sein kann. In Berlin freilich hat man die Sache anders verstanden. Da erkannte man den Wahnsinn, dass wir so lange gesungen „das Vaterland muss grösser sein", sowie dass insbesondere auch das Land dazu gehören müsse, „wo die Donau brausend zieht", was sie doch erst unterhalb Passau recht tut, wo der Strudel kommt, — nein, das Vaterland muss kleiner sein, nämlich gerade nur so gross, dass es in unsre Konzeptionen hineinpasst. Oder anders gesprochen: dass es von unserem Magen, als welcher in diesem Falle die Marke Brandenburg anzusehen wäre, ohne allzu grosse Beschwerden verdaut werden kann. Als deutsch hätte also


[S.151]

hinfort zu gelten, was sich für das Preußentum verdaulich machen liesse, wozu wahrscheinlich das gesamte Alpenland sich angeeignet erweisen dürfte. Eine Politik, der das Verdienst massivsten und — um zugleich berlinisch zu sprechen — unverfrorensten Realismus nicht abzustreiten ist, die sich aber auch damit als von Grund aus undeutsch charakterisiert, indem sie sich ausdrücklich auf ihre egoistischen Interessen beschränkt, alle höheren Aufgaben von vornherein ablehnend.

Solcher Denkweise gemäss soll auch das neue deutsche Reich, inhaltlich seiner Verfassungsurkunde, lediglich zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes bestimmt sein. Wo seine Grenzpfähle stehen, hört sein Beruf auf, internationale Aufgaben — um hier einmal einen kanzlerischen Ausdruck anzuwenden — sind dem Reiche „Wurst”. Und das heisst heute deutscher Aufschwung! Selbst der vielgeschmähte deutsche Bund hatte in dieser Hinsicht immer noch eine höhere Auffassung bekundet, indem die Bundesakte besagte, dass er nicht bloss den Interessen der deutschen Bundesstaaten dienen sollte, sondern zugleich der Ruhe und dem Gleichgewicht Europas. Auch hat er das, wenngleich nur in rein passiver Weise, wirklich getan. Er selbst war der Schlussstein des europäischen Staatengebäudes, und so lange er in anerkannter Geltung bestand, blieb Europa ein Menschenalter hindurch vor grossen Kriegen bewahrt. Erst nachdem im Jahre 48 die Fortexistenz des Bundes in Frage gestellt worden, brachen grosse Kriege aus, und mit seiner endlichen Zerstörung im Jahre 66 hat das ganze europäische Gebäude seinen Innern Halt verloren. Nur tatsächliche Machtmittel gewähren seitdem noch Sicherheit, daher gilt es überall rüsten, und um die grossen Erfolge von 66 und 70 nicht wieder gefährdet zu sehen, müssen wir seitdem ununterbrochen auf dem Posten stehen, vorläufig, wie Moltke gesagt, auf fünfzig Jahre! Das ist auch eine Konsequenz solcher realistischen Politik, dass sie Deutschland zur Basis des europäischen Militarismus gemacht hat, statt dessen es die Basis eines europäischen Friedenssystems sein sollte. Und ob nun dabei die Wohlfahrt des deutschem Volkes gedeihen kann, wenn ihm das Militärbudget das Mark angesagt? Es scheint, der Realismus schlägt sich selbst ins Angesicht.

Wie ganz anders hatte vor Zeiten die deutsche Nation ihren Beruf aufgefasst in dem ehemaligen heiligen römischen Reiche! Das wollte und sollte seine Ehre und seine Grösse darin finden, dass es den allgemeinen Interessen der Christenheit diente. Diese universale und internationale Aufgabe galt damit als der deutsche Nationalberuf. Tief hatte sich diese Idee den Gemütern eingeprägt, die Tradition hielt daran fest selbst noch im 18ten Jahrhundert, wo das Reich fast nur noch als ein Schatten existierte, indessen die öffentlichen Urkunden noch immer im Sinne jener hohen Intentionen sprachen. Die Kaiserwahl, hiess es, geschähe: „Gott an Lob, dem heiligen römischen Reiche zu Ehren, und um der Christenheit und deutschen Nation, auch gemeinen

[S.152]

Nutzens willen”. Man beachte das: die Christenheit geht voran, darauf folgt erst die deutsche Nation, zuletzt der gemeine Nutzen, für die heutige Reichsverfassung hingegen ist gerade der gemeine Nutzen der deutschen Nation das A und O. Und zwar dieser gemeine Nutzen so buchstäblich genommen, dass die Verfassungsurkunde, während sie von allen idealen Angelegenheiten rundweg schweigt, in ihrer um so ausführlicheren Behandlung des Telegraphen-, Post- und Eisenbahnwesens sogar den Pfennigstarif als einen besondren Punkt hervorhebt, sowie andrerseits die 225 Thaler, welche für jeden Soldaten in die Reichskasse zu zahlen sind, ebenfalls eine Fundamentalbestimmung bilden. Seitdem mag das Land der Denker sich rahmen eine Verfassungsurkunde zu besitzen, der nach Plattheit der Gedanken, nach Stillosigkeit in der Ausführung, wie nach Würdelosigkeit des Ausdrucks, so lange in der Welt Verfassungsurkunden geschrieben wurden, keine einzige vergleichbar sein dürfte. Es sieht ungefähr aus, als handelte es sich um das Statut für eine Aktiengesellschaft.

Zurück von diesem unerfreulichen Bilde zu unserem ehemaligem heiligen römischen Reiche deutscher Nation, denn, über das Wesen desselben müssen wir uns vorweg klar werden, um zu erkennen, was eine wahre deutsche Politik sein soll. Natürlich aber werden wir dasselbe nicht nach der verkommenen Gestalt beurteilen wollen, in welcher es in den letzten Jahrhunderten auftrat, sondern nach der ihm zu Grunde gelegenen Idee. Darum werden wir auch die Frage nicht etwa so stellen: welche Vorteile oder Nachtheile daraus für die deutsche Nation entsprungen seien? worüber sich gar vieles pro und contra sagen liesse, was doch alles nicht in den Kern der Sache einführte. Fragen wir statt dessen vor allem, nach der Bedeutung, welche diese Schöpfung im Ganzen der Weltentwicklung hatte. Die unermessliche Bedeutung nämlich, dass eben das heilige römische Reich das Bindeglied wurde, wodurch das neuere Europa, sich mit dem vorangegangenen Altertum verknüpfte. Und das war wohl vom höchsten menschheitlichen Interesse, dass die neuere Welt das Gefühl bewahrte, wie auch die alte Welt in gewissem Sinne in ihr noch fortlebte, so dass die Kette der Entwicklung durch das Mittelalter, durch das römische und griechische Zeitalter hindurch, bis auf den Ursprung des Menschengeschlechtes zurückreichte. Davon besass das Mittelalter wirklich ein lebendiges Gefühl, wie so viele Tatsachen bekunden. Leiteten doch bekanntlich die Ranken ihren Ursprung sogar von den Trojanern her. Gleichviel dann, ob man dabei die Geschichte mit Fabeln ausfüllte, es war sehr menschlich gedacht, dass man nicht von gestern sein wollte. Darum auch nicht bloss für heute, wie nun das eintägige Geschlecht unserer Tage allerdings gesinnt ist.

Gehört, es gewiss zu den Geistestaten, worauf die deutsche Nation stolz sein kann: zuerst eine objektive Betrachtung des Altertums begründet zu haben, und das Sie selbst so nachdrücklich hervorheben,  — was befähigte

[S.153]

den  deutschen  Geist dazu?    Dies,  das  er  durch  die  Schule   des  heiligen römischen Reiches hindurch gegangen war. Hätten die Deutschen statt dessen, einen abgeschlossenen Nationalstaat gebildet, wie etwa Franzosen oder Engländer, so hätte der deutsche Geist nie die Weite des Blickes und die Unbefangenheit des Urteils gewonnen, welche au einer reinen Auffassung des Altertums erforderlich war. Ein Lessing und ein Winckelmann wären auf französischem oder englischem Boden nicht aufgekommen. Nun aber, das heilige römische Reich mit derselben ruhigen Klarheit betrachtet, womit jene Männer das klassische Altertum betrachteten, — hätte es denn als blosse Phantasterei zu gelten, dass dieses Reich, in gewissem Sinne eine Wiedergeburt des altrömischen Reiches darstellte? Das hiesse sehr oberflächlich geurteilt. Wie in dem Papsttum eine Metamorphose des altrömischen Pontifex maximus erschien, so in dem deutsch-römischen Kaisertum eine Metamorphose des alten Imperatorentums. Gehörte zwar beides wesentlich zusammen so war es doch noch, viel wichtiger, dass jetzt das sacerdotium und das imperium in zwei verschiedene Spitzen auslief, woran die mittelalterliche Theorie von den zwei Schwertern, welche die Welt regierten, erst ihren realen Anhalt erhielt. Wie folgenreich war es also, dass damit dem Zusammenfliessen der geistlichen und weltlichen Gewalt eine unüberwindliche Schranke gesetzt blieb! Ganz einfach nämlich dadurch, dass das neue römische Kaisertum die deutsche Nation zu ihrem Träger hatte, wie hingegen das sacerdotium auf altklassischem Boden ruhte. Ein Zentrum diesseits, das andere jenseits der Alpen, — da mussten es wohl zwei bleiben! Dass es aber zwei blieben, das begründete wieder die Eigentümlichkeit und die weit edlere Entwicklung der abendländischen Christenheit im Unterschiede von der morgenländischen.

Solches Nebeneinanderbestehen von Papsttum und Kaisertum war für die mittelalterliche Welt eine Notwendigkeit, es galt ihr seihst als die gottgewollte Ordnung. Ein Dante lebt und webt in dieser Idee. Obwohl Italiener und nicht ohne Nationalgefühl, nimmt er darum nicht den geringsten Anstoss daran, dass das Kaisertum in den Händen der Deutschen ist. Im Gegenteil, er macht es dem deutschen Kaiser zum Vorwurf nicht kräftig genug in die italienischen Angelegenheiten eingegriffen zu haben. Er hoffte seiner Zeit auf Heinrich VII. In derselben Absicht schrieb später Petrarca seine Exhortio ad Corolum IV de pacificanda Italia. So dachten damals die grössten Geister ihres Zeitalters. Wir Deutsche aber müssen wohl die höchste Ehre unsrer Nation gerade darin erblicken, dass sie diese Idee ergriff, und dafür zu wirken für ihren wahren Nationalberuf erkannte.

Auch sind die Opfer, welche Deutschland in desswillen gebracht, nicht unbelohnt geblieben. War zwar das dem Kaisertum gesteckte hohe Ziel niemals zu erreichen gewesen, und nach dem Sturz der Hohenstaufen selbst die: Möglichkeit dazu verschwunden, — das Streben danach, hatte Kräfte erweckt und der ganzen Nation einen wunderbaren Schwung gegeben. In

[S.154]

wenigen Jahrhunderten verbreitete sieh das Deutschtum von der Elbe über die Oder, die Weichsel, den Riemen, die Düna, bis an den Peipussee; auf der Ost- und Nordsee herrschte die deutsche Hansa, von Nowgorod bis London gründete sie Faktoreien, in allen Handelsplätzen des Nordens siedelten sich deutsche Bürger an; noch mehr in den polnischen Städten, welche das Magdeburger Stadtrecht empfingen, das in Polen bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts gegolten hat; ähnlich in Ungarn, in Siebenbürgen wurden, die Deutschen sogar zu einem besonderen Zweige der Landesbevölkerung. Hohe Dome, stattliche Rathäuser und Mauertürme, erhoben sieb nicht nur in den rheinischen und oberdeutschen Städten, sondern schnell auch in den so eben erst verdeutschten Ländern, wie rotz, der natürlichen Armut des Landes in der Mark Brandenburg, um so mehr in den reicheren Seestädten, von Lübeck, an bis Danzig, Riga und Reval. Nicht zu vergessen, die Bürgen des deutschen Ordens und der Schwertbrüder, vor allem das unvergleichliche Ordenshaus in Marienburg, dessen Überreste selbst einen Schinkel, der für griechische Kunst begeistert war, mit Staunen erfüllten. Es muss wohl in dem damaligen Deutschtum eine mächtige Schöpferkraft gelegen haben. Oder wie wäre endlich der gleichzeitige Aufschwung der deutschen. Dichtung zu erklären, ohne den hohen Geist und die frischen Triebe, die in der deutschen Nation erwacht waren? Das heilige römische Reich bildet zu, dem allen den Hintergrund. So stand gegen Ende des Mittelalters die deutsche Nation da, als die lebensvollste, die wohlhabendste, die bildsamste und erfindungsreichste des ganzen Kontinents.

Gewährte zwar die Kaiserkrone schon damals nicht gar viel materielle Machtmittel mehr, noch immer ruhte eine grosse moralische Macht auf ihr. Die Taten der sächsischen, salischen und schwäbischen Kaiser hatten ihre Nachwirkung hinterlassen. Gewiss, ein Karl V. fühlte sich nur wenig als Deutscher, um so mehr aber als Kaiser. Selbst in Spanien wurde er als solcher angesehen. Als spanischer König wäre er da Karl I., er heisst aber bis diesen Tag Carlo quinto. Mehr als das spanische Wappen galt ihm, der Reichsadler. Man findet denselben noch heute in Toledo, wie an dem Tore von Gibraltar, wo er unter der jetzigen englischen Herrschaft einen, doppelt seltsamen Eindruck macht. Also bis an die Säulen des Herkules, von wo er nach Afrika hinüberschaute, war dieser Vogel geflogen, und der englische Leopard respektierte ihn.

Bestand nach dem dreißigjährigen Kriege das Reich nur noch als Ruine fort, so behielt es selbst in diesem Zustande noch immer eine universale Bedeutung, die nur seitdem in rein passiver Weise hervortrat. Wurden auf deutschem Boden die grossen Völkerschlachten geschlagen, so wurden da auch die grossen Kongresse abgehalten, wie der westfälische Friedenskongress und der wiener Kongress, deren Satzungen hinterher die Grundlagen des positiven Völkerrechts bildeten für ganz. Europa. Ähnlich waren vordem, die grossen Konzilien von Kostnitz, von Basel und Trident auf dem Boden des Reiches abgehalten.

[S.155]

Dazu erwäge man, dass der Erzherzog von Österreich zugleich in Ungarn, Mailand und Belgien herrschte, der Markgraf von Brandenburg in dein doch nicht zu dem eigentlichen Deutschland gehörenden ehemaligen Ordenslande am Pregel und am Niemen; dass ein deutscher Kurfürst den englischen Thron bestieg, ein anderer den polnischen; während hingegen Schweden und Dänemark deutsche Reichslande inne hatten. Es ergab sich als natürliche Folge, dass die deutschen Angelegenheiten überall mit den europäischen verflochten erschienen. Ans dieser weitreichenden Bedeutung also, welche die Reichsverfassung dadurch besass, erklärt sich's, wie die deutschen Reichspublizisten, inmitten des traurigsten Verfalls der Reichsmacht, doch immer noch, in hohem Tone von dem alten Reiche sprachen. Es galt ihnen wie eine naturnotwendige unverwüstliche Bildung. Blieb doch selbst der grosse Friedrich, der so oft seinen Spott mit dem alten Reiche getrieben, trotzdem weit entfernt davon, es überhaupt auflösen zu wollen. Er wollte es vielmehr erhalten wissen. Als aber endlich die Auflösung erfolgte, da zeigte sich erst recht, welche tiefgreifende Bedeutung das Reich gehabt, denn damit brach, auch das ganze alte europäische Gebäude zusammen. Eine neue Völkerwanderung schien zu beginnen, die ihre Wellen vom Tajo bis an die Moskva schlug, wie in ihrer Rückflut vom Ural bis an die Loire. Denn so zogen ein Jahrzehnt lang die Heerscharen durcheinander. 

Konnte der deutsche Geist sich nicht mehr nach aussen hin betätigen, so wandte er sich um so mehr in seine eigene Tiefe, wo sich ihm eine Welt des Gedankens erschloss. Und gerade als das Reich seiner völligen Auflösung entgegenging, schufen unsre klassischen Dichter ihre grössten Werke, erhob der deutsche Idealismus sich zum kühnsten Flug. Schon gab es, politisch betrachtet, überhaupt kein Deutschland mehr, da tritt ein Fichte auf, welcher der deutschen Nation zuruft: sie sei es, auf der das Heil der Welt beruhe. Den deutschen Geist beschwört er in seinen Reden herauf, der soll ihm.
„neue Schlachten eröffnen, Licht und Tag in ihre Abgründe, und Felsmassen von Gedanken schleudern, aus denen die künftigen Zeitalter sich Wohnungen erbauen.”

Das war etwas: eine solche Sprache in der berliner Akademie zu führen, während draussen auf der Strasse die französische Militärmusik vorbeizog! Nur hat sich dessen — beiläufig bemerkt — nicht etwa der Berlinismus zu rühmen, in welchen dieser Mann selbst nur wie hineingeschneit war.

Mag es doch sein, dass Fichte, von dem Standpunkt seines Subjektivismus aus, nur wenig von dem Wesen des ehemaligen Reiches verstanden haben konnte, selbst ohne sein Wissen, wirkte die Idee desselben in ihm fort. Noch mehr: es war ihm ein Leibnitz vorangegangen, der durchaus in den Traditionen des Reiches lebte, als der letzte unsrer bedeutenden Männer, der über das Wesen des Reiches ein Bewusstsein und ein Gefühl dafür hatte, was beides nach ihm erlosch. Darf man nicht sagen, dass in der Unermesslichkeit der geistigen Bestrebungen dieses Mannes, die alles Gebiete des Wissens und des Lebens umfassten, gewissermaßen sich die universale Tendenz des Reiches

[S.156]

abspiegelte?   Er war es, der inmitten, der traurigsten Zustände, wenigstens auf literarischem Gebiet, die Ehre der deutschen Nation rettete vor ganz Europa. Nicht minder ein Phänomen als in andrer Weise der grosse Kantor Sebastian Bach, an dessen Werken Sie selbst uns gezeigt, was der deutsche Geist aus sich heraus zu schaffen vermöge. Verstanden und gewürdigt von einen Landsleuten wurde der Philosoph nicht vielmehr als der Komponist.

Mit einem Worte: darf der deutsche Geist in der Tat sich seiner universalen Bestrebungen, rühmen, so liegt darin immer ein Ausfluss aus derselben Idee, die sich einst in dem heiligen römischen Reiche verkörperte. Ohne dies, sage ich, hätten wir auch keinen Goethe gehabt, durch dessen, allumfassenden Dichtergeist die deutsche Literatur sich zur Weltliteratur entfaltete. Es war dabei wohl nicht ohne Einwirkung auf Goethes Entwicklung geblieben, dass er aus der alten Reichsstadt stammte, wo er in früher Jugend eine Kaiserwahl und Krönung erlebte. Er selbst erzählt ausführlich davon. Kein Zweifel, dass die dabei, stattfindenden Feierlichkeiten, die doch immer nicht bloss eine allgemein deutsche Bedeutung hatten, sondern sogleich an, die ehemalige Weltstellung des Reiches erinnerten, einen, tiefen Eindruck in dem jungen so empfänglichen Gemüte hinterliessen. Ich wage sogar die Behauptung, dass die Konzeption seines Faust dadurch bedingt war, denn der Faust spielt schlechterdings im Reiche, d.h. auf einem Boden, für welchen, alle bloss staatlichen Verhältnisse von vornherein in den Hintergrund verschwunden sind. Lässt dann der Dichter im weiten Teil auch noch die antike Welt wieder erscheinen, so sahen wir ja, wie die in gewissem Sinne als in dem Reiche fortlebend gedacht wurde. Seiner Idee nach konzentrierte sich das ganze Universum in ihm.

Endlich aber, diese Reichsidee — hatte sie nicht selbst wieder ihre Grundlage in der christlichen Weltansicht? Damit war erst recht die universale Tendenz gegeben, so gewiss das Christentum für die ganze Welt bestimmt ist. Waren es nun die germanischen Völker gewesen, durch welche das Christentum in der Tat erst seine welterneuernde Kraft bewähren konnte, während die antike Welt trotz ihrer Christianisierung unaufhaltsam in sich, selbst abstarb, so machte es sich wieder ganz natürlich, dass das Kernland des Germanentums zur besonderen Stürzte der Kirche wurde, an deren Herrschaft, nach damaliger Lage der Dinge, die christliche Entwicklung gebunden war. Darum hiess das Reich das heilige. Wurde infolge dessen auch der Kaiser zu einer halbgeistlichen Gestalt, so spielten noch mehr die kirchlichen Gewalten in die Reichsverfassung hinein, in einem Masse, wie sonst in keinem andren europäischen Lande geschehen. War es nicht wieder eine natürliche Folge davon, dass nun umgekehrt die deutsche Nation sich hinterher für berufen und befugt hielt, die allgemeine Kirchenreform in die Hand zu nehmen? Denn allgemein sollte sie sein. Hatten, sich mit den, Reformbestrebungen eines Huss spezifisch czechische Tendenzen vermischt, so verfolgte Luther hingegen keine spezifisch deutschen Tendenzen, sonst würde vielleicht die Reformation in

[S.157]

Deutschland zur vollen Herrschaft gelang sein. Statt dessen schling das Unternehmen nach seiner allgemeinen Tendenz fehl, und endete selbst in Deutschland in konfessioneller Spaltung.


In das Reich war damit der Todeskeim gelegt, es war fortan eine gebrochene Existenz. Von einer deutschen Nationalentwicklung, im vollen Sinne des Wortes, konnte überhaupt keine Rede mehr sein. Was folgt aber daraus? Nichts andres, meine ich, als dass die Geschicke der deutschen, Nation seitdem nur um so mehr an die Geschicke des Christentums gebunden sind, da diese Nation innerlich eins nur wieder werden kann, wenn die christliche Geist sich auf einen Standpunkt erhebt, für welchen die konfessionelle Spaltung verschwindet, nachdem drei Jahrhunderte genügend gezeigt, dass eben so wenig der Protestantismus sich rekatholisieren, als der Katholizismus sich protestantisieren lässt. Töricht, daran zu denken. Es handelt sich vielmehr um eine Entwicklung, die über den Gegensatz hinaus führt, und zu welcher dann die Reformation selbst nur ein Durchgangsstadium gewesen sein wird. An solcher geistigen Entwicklung zu arbeiten, dazu muss die deutsche Nation sich eben so um ihrer selbst willen getrieben fühlen, als um der ganzen abendländischen Christenheit willen, durch welche seitdem die Spaltung hindurchgeht.

Ich kann diesen Gedanken hier nicht weiter ausspinnen, die politische Erörterung würde sonst zur religionsphilosophischen werden. Aber auch so schon fällt damit das hellste Licht auf das Wesen des heutigen neudeutschen Reiches, und ist das entscheidendste Urteil darüber gesprochen. Denn weitentfernt, jener grossen Aufgabe irgendwie dienen zu wollen, charakterisiert dies sogenannte Reich sich gerade dadurch, dass es vom Christentum, als einer für seine Zwecke gänzlich, gleichgültigen Sache, von vornherein abstrahiert. Es geschieht dies so sehr, dass aus dem Inhalt der Reichsverfassung in keiner Weise an ersehen wäre, ob dieselbe für eine christliche, oder etwa für eine mohammedanische oder heidnische Bevölkerung bestimmt sein möchte, sie scheint vielmehr für eine überhaupt religionslose Bevölkerung bestimmt zu sein. Weil nun aber mit dem blossen Ignorieren des Christentums nichts getan ist, sondern in der Welt zuletzt immer nur das Positive gilt und sich durchsetzt, konnte es auch kaum anders geschehen, als dass damit, an Stelle des ehemaligen heiligen römischen Reiches deutscher Nation, ein Reich entstand, welches tatsächlich schon in vollem Zuge ist, sich als ein deutsches Reich jüdischer Nation zu entpuppen, welches allerdings in Berlin, wo schon heute das Kommunalleben, wie das wirtschaftliche und das geistige Leben, ganz unter jüdischem Einfluss steht, die geeignetste Hauptstadt finden dürfte. Das ist die Perspektive. Was hätte das damalige deutsche Kaisertum solcher Wendung der Dinge entgegen zu setzen? Jedenfalls keine geistigen Kräfte, da es prinzipaliter selbst nur als ein Heermeistertum auftritt, verbunden mit dem Generalinspektorat über Posten, Telegraphen und Eisenbahnen, dazu aller geschichtlichen Grundlagen entbehrend, lediglich ein Resultat der Siege in Böhmen und Frankreich
[S.158]

Nie wäre diese Mißgeburt des heutigen deutschen Reiches in die Welt getreten, hätte man nur noch die leiseste Ahnung von dem wahren Berufe deutscher Nation gehabt, wie derselbe einst zum Ausdruck gekommen war in dem heiligen römischen Reiche, dessen tiefen Sinn darzulegen mir daher vor allein unerlässlich schien. Waren, das freilich nur retrospektive Betrachtungen, so ging doch jedenfalls als praktisches Resultat daraus hervor, dass es dem Wesen und der Bestimmung Deutschlands rundweg widerspricht, — wie aber jetzt eben versucht wird, — einen abgeschlossen Nationalstaat daraus machen zu wollen, weil die Verflechtung der deutschen Verhältnisse mit den europäischen schlechterdings nicht zu beseitigen ist, infolge dessen die deutsch Nationalverfassung immer zugleich einen internationalen Charakter haben muss. Soviel steht damit fest. Aber träume ich nun, etwa von einer Repristination des ehemaligen Reiches? Das sei ferne!

Nein, die kleindeutsche Kaiserpartei ist es vielmehr, die uns auf den Weg der Repristination führte. Einer um so sinnloseren Repristination, als dem neugeschaffen Kaisertum gerade das fehlt, wodurch dasselbe einst motiviert war. Nämlich, dass es die Einheit der abendländischen, Christenheit repräsentieren sollte, als Metamorphose des altrömischen Kaisertums, woher ja überhaupt der sonst den deutschen Völkern ganz unverständliche Kaisertitel stammte. Der deutsche König wurde aber zum Kaiser, — weil und insofern die deutsche Nation sich einen über die deutschen Nationalinteressen hinausgehenden Weltberuf zuschrieb. Ohne diese blieb er lediglich deutscher König. Will hingegen, das neue Kaisertum sich ausdrücklich nur mit deutschen Interessen beschäftigen, — wozu, dann überhaupt der Kaisertitel? Soll es etwa bloss ein hochklingender Name, der Kern der Sache aber vielmehr die Begründung eines neuen, deutschen Königtums sein, so ist dies selbst wieder unmöglich. Denn nur dadurch, hatte ehemals das deutsche Königtum sein reelle Bedeutung, dass es die Gemeinschaft der unter ihren Herzogen stehenden, altdeutschen Volksstämme repräsentierte, seitdem aber unter dem kaiserlichen Walten, durch die südöstlichen und nordöstlichen Marken, das Deutschtum sich, weit über seine nationalen, Grenzen ergossen hatte, und daraus hinterher politische Bildungen entsprangen wie Österreich und Preußen, die sofort einen europäischen Charakter annahmen, hätte ein deutsches Königtum, als über dem Ganzen schwebende Macht, keinen inneren Sinn mehr. Ganz zu geschweigen, dass jedenfalls neben einem deutschen König kein König von Bayern, von Württemberg oder Sachsen bestehen könnte. Genug, es heisst nichts andres, als die Resultate einer vielhundertjährigen Geschichte rückgängig machen wollen, wenn es jetzt wieder einen deutschen König gehen soll, der wie die Reichsverfassung naiver Weise besagt, „den Namen deutscher Kaiser führt”. Eine Mystifikation ohne Gleichen, so gewiss als diese neue Schöpfung, weder mit unserem alten Königtum noch mit unserem alten Kaisertum, nicht die geringste Verwandtschaft hat, sondern, überhaupt ideenlos, sich nur  durch

[S.159]

materielle Machtmittel geltend machen kann, und so am Ende ein Reich des Materialismus begründen wurde.



Für mich war das alte deutsch-römische Kaisertum definitiv erloschen. Es hatte sich so vollständig in sich selbst aufgezehrt, dass gar kein Stoff mehr übrig blieb, woraus ein neues hervorwachsen könnte. Anders aber verhält es sich mit der universalen Idee des ehemaligen Reiches, welche offenbar nicht an die feudale Gestaltung gebunden ist, welche sie im Mittelalter angenommen hatte. Wollte und sollte das ehemalige Kaisertum die Gemeinschaft der abendländischen Christenheit zur Darstellung bringen, — könnte denn dies in keiner andern Weise geschehen, als durch eine kaiserliche Lehnherrschaft über die verschiedenen Völker, die selbst im Mittelalter niemals zur vollen Anerkennung gelangte? Nein, eben das war das Vergängliche an dem ehemaligen Reiche. In Zukunft nichts mehr von einer Oberherrschaft unter irgendwelche Form, sondern nur die freie Föderation kann zu dem Ziele führen, welches dem mittelalterlichen Kaisertum unerreichbar blieb.

Schon St. Pierre, der in seinem Projekt zur Begründung eines beständigen Friedens die Errichtung eines Staatenbundes in, Aussicht nahm, wozu ihm das deutsche Reich als Vorbild zu dienen schien, bemerkt dabei, dass nur eben die kaiserliche Oberherrlichkeit die weitere Ausbreitung des Reiches verhindere, weil der Beitritt zum Reiche die Unterwerfung unter diese Oberherrschaft bedeuten würde, wozu natürlich kein selbständiger Staat geneigt sein könnte. Das spricht für sich selbst. Und hat nicht die unglückselige Idee eines neuen deutschen. Kaisertum, anstatt zur Wiederherstellung Deutschlands, vielmehr zur Versammlung desselben geführt, weil infolge dessen Österreich, welches offenbar sich dem neuen Kaisertum nicht unterordnen liess, von dem deutschen Nationalkörper rundweg abgetrennt weiden musste? Lediglich um, desswillen hat nun das neue Kleindeutschland um so höhere Militärlisten zu tragen, welche ihm eine jährliche Mehrausgabe von allerwenigsten 100 Millionen verursachen, die sonstigen Nachteile hier ganz aus der Rechnung gelassen.

In dem alten Bunde konnten Preußen und Gestenreich sehr wohl neben einander bestehen, hätten sie nur beiderseits den guten Willen gehabt, statt einer preußischen und österreichischen Sonderpolitik eine Bundespolitik führen zu wollen. Dadurch wäre der Rund, den eben die preußische und österreichische Sonderpolitik in Lahmheit erhielt, infolge dessen er zu einer blossen Polizeianstalt herabsank, alsbald zu einem lebendigen politischen Körper geworden. Als solcher würde er auch Anziehungskraft geübt haben, und lag es dann nahe genug, dass namentlich Holland, Belgien und die Schweiz hinzutraten. Diese ehemaligen Reichsländer wären damit wieder Bundesländer geworden. So nach Westen hin. Nach Osten hin zeigt schön die Landkarte, wie Österreich zur Handhabe werden konnte; um die unteren Donauländer heran zu ziehen, wie hingegen die preußischen Ostseeprovinzen auf das

[S.160]

polnische Hinterland hinweisen. Statt auf Eroberungen in Deutschland auszugeben, hatte Preussen vielmehr seine Tatkraft nach Nordosten an richten. Dahin deuteten, ebenso seine realen Interessen, wie andrerseits die Traditionen der deutschen Geschichte. War doch auch Liefland ein deutscher Ordensstaat, und sogar mit dem Ordensstaat an der Weichsel Jahrhunderte lang verbunden gewesen. Mit der Erbschaft, die Preussen in dem letzteren angetreten, war ihm die Pflicht überkommen, auch für die Erhaltung des Deutschtums an der Düna zu sorgen. Warum ist nun von alle dem nichts geschehen? Lediglich, deshalb, weil man zu einer Bundespolitik weder in Berlin, noch in Wien geneigt war. Hier wie dort wollte man nicht den Bund gross machen, sondern, selbst um so grösser werden. Für Preussen wie für Österreich galt Deutschland nur als ein nutzbares Material, man stritt sich darüber, wer das auszunutzen hätte, und dazu allein war der Bund noch gut, dass er einstweilen den Tummelplatz für die beiderseitigen Rivalitäten bildete. Was konnte bei solchen Tendenzen aus dem Bunde werden? Ihn anders aufgefasst, war damit die Basis zur Bildung eines grossen föderativen Körpers gegeben, der sich allmählich von der Mündung der Scheide bis an, die Mündung der Donau, ausdehnte, vom Genfersee bis an den Peipussee.

Ich habe diese Idee schon im Frühjahr 48 aufgestellt und damit meinen Protest gegen den Anachronismus eines neuen deutschen Kaisertums erklärt. Seitdem habe ich dasselbe Thema in immer neuen Variationen vorgetragen und in ausführlichen Schriften entwickelt. Blieb aber bis diesen Tag alles wie in den Wind gesprochen. Und warum denn? Darum, weil man den, wahren Sinn des ehemaligen heiligen, römischen Reiches, welches nun doch einmal unser allergrösstes geschichtliches Erbe bildet, nicht zu, fassen, zu den hohen Intentionen desselben sich nicht aufzuschwingen vermochte. Was war aber wirklich das Grosse daran gewesen, als dass es kein bloss deutsches National-Institut sein wollte und sollte, sondern auf universale Zwecke gerichtet, auf die Vereinigung der gesamten abendländischen Christenheit? Und dazu eben wäre in unseren Tagen wieder der tatsächliche Anfang gewonnen durch die in Rede stehende Begründung einer mitteleuropäischen Föderation, die einerseits Russland in seine gemessnen Grenzen zurückwiese, andrerseits Frankreich, jede Möglichkeit zu ehrgeizigen Anschlägen nach dem Rhein, hin entzöge. Dann gewissermassen gezwungen, seine überschäumende Kraft auf den Orient zu richten, worauf vor zwei Jahrhunderten schon Leibnitz die Tatenlust Louis XIV hinwies, würde Frankreichs Vorgang bald auch Spanien und Italien in dieselbe Bahn, gerissen haben. Die Levante und, die mediterranen Küstenländer Afrikas für die christliche Zivilisation zurück zu erobern, würde hinfort zur gemeinsamen Aufgabe der romanischen Völker geworden sein. Und dass diese geschah, beruhte dann eben auf dem mitteleuropäischen Bunde.

[S.161]

Ben   Kern   desselben   wurde   das   eigentliche  Deutschland   bilden, als der engere Bund, woran in loserer Verbindung die östlichen nichtdeutschen Länder sich anschlössen, nämlich durch preußische und österreichische Vermittlung, Das föderative Prinzip ist elastisch, es gestattet sehr verschiedene Formen des Zusammenhangs. Ähnlich wie ehemals das feudale Prinzip, welches auch die Verbindung nichtdeutscher Länder mit dem ehemaligem Reiche ermöglichte. Wie z. B. Savoyen und Lothringen dazu gehörten, aber freilich in anderer Stellung als etwa Bayern oder Sachsen und anders war wieder Böhmen gestellt. Dehnte sich damals das Reich, durch Verbindung der Krone von Burgund und Italien mit der Kaiserkrone, nach Westen und Süden aus, so würde es bei der heutigen Weltlage sich hingegen nach Korden und Osten auszudehnen haben. Solcher Bund also, und die dadurch angebahnte Begründung der abendländischen Völkergemeinschaft, — das wäre es, was jetzt an die Stelle des ehemaligen heiligen römischen Reiches zu treten hätte. Könnte er doch sogar sich selbst den heiligen Bund nennen, und gewiss mit besserem Rechte, als vordem die heilige Allianz so hiess, da er mittelbar den Zwecken der ganzen christlichen Zivilisation dienen würde. 

Statt dessen hat man sich in enge Nationalitätstendenzen verrannt, welche in den tatsächlichen Verhältnissen gar keinen Anhalt mehr finden, wo vielmehr die so erstaunlich gesteigerten Kommunikationsmittel, und der daraus entsprungene Waren- und Personenverkehr, nebst der Zirkulation der Kapitalien und der Gedanken, wie von selbst zu allgemeiner Vereinigung und zum Zusammenwirken auffordern. Und unter solchen Umständen soll nun grade Deutschland, welches schon in Folge seiner natürlichem Lage sich am allerwenigsten isolieren kann, welches selbst in früheren Jahrhunderten, wo die Kommunikation noch so schwierig war, eine exklusive Nationalentwicklung nicht gekannt und dessen grosse Denker, Dichter und Literatoren vielmehr ihren Ruhm darin fanden, über das bloss Nationale hinaus ihren Geist auf das allgemein Menschliche zu richten, — da soll dieses Deutschland, im offenbarsten Widerspruch zu den realen Entwicklungsbedingungen unsres Zeitalters nur um so mehr einen spezifisch nationalen Charakter annehmen, sich zu einem abgeschlossenen Nationalstaat ausbildend! Um so lächerlicher, wenn in der Verfassung dieses angeblichen Nationalstaates das allermeiste auf Nachahmung fremder Vorbilder beruht, indessen spezifisch Deutsches kaum darin zu finden ist. Geradezu ekelhaft endlich muss uns der jetzt präparierte und so anspruchsvoll auftretende neue deutsche Nationalgeist erscheinen, wenn es tatsächlich Jude sind, welche sich als die berufensten Stimmführer desselben gebärden, und damit ebenso Geschäfte machen wie auf der Börse oder im Kleidertrödel. Ei, wenn wir so durchaus deutsch-national werden wollen, stossen wir doch zuvörderst das Judentum aus, welches sich wie ein Bandwurm in unserem Nationalkörper eingenistet, die innersten Lebenskeime deutschen Volkstums verderbend und aussaugend.

[S.162]

Es war ja ganz in der Ordnung und hoch zu rühmen, dass wir dem französischen Übermut die längst verdiente Züchtigung erteilt, um so unberechtigter aber, darauf selbst in den gleichen Ton des Übermutes gegen Frankreich und in einen Franzosenhass zu verfallen, der immerhin zur Zeit der Freiheitskriege erklärlich sein mochte, heute hingegen nur dazu dienen kann, uns um so mehr in den Militarismus hinein zu hetzen. Um so alberner zugleich, wenn wir doch andererseits fortfahren, unsre Moden wie unsere Theaterstücke von Frankreich zu beziehen, dazu in allen äusseren Formen des gesellschaftlichen Verkehrs, so weit nur immer möglich, französischen Vorbildern zu folgen.

Nichtig überhaupt, was man jetzt von dem radikalen Gegensatz faseln will, der zwischen dem Germanentum und Romanentum bestehe! Fliesst nicht auch in den Adern der romanischen Völker gar viel germanisches Blut? Haben wir nicht mit ihnen das gemeinsame Mittelalter durchlebt, wo die Verfassungen und sozialen Einrichtungen in der Hauptsache überall fast dasselbe Gepräge trugen? Und wenn die romanischen Völker die Überreste altrömischer Bildung in sich aufnahmen, — bewirkt nicht der klassische Unterricht, der uns doch als unentbehrliche Grundlage aller höheren Bildung gilt, dass das Altertum auch in uns noch geistig fortwirkt? Unterschiede bestehen allerdings, noch mehr aber Gemeinsames, und gerade in den tiefsten Elementen des Lebens. Mich hat es in Spanien oft frappiert, wie viel Germanisches noch in dem spanischen Wesen steckt. Kommunale Autonomie hat sich dort sogar viel kräftiger erhalten, als in Deutschland. Uns räumlich ferner liegend als die anderen romanischen Länder, ist uns wirklich dies Land innerlich am verwandtesten. Hat der Franzose Esprit, der Italiener Genie, so hat nur Spanien in seinem Cervantes einen Humoristen ersten Ranges aufzuweisen. Und Humor kann nicht ohne Gemüt sein. Welche Gemütstiefe spricht sich in Murillo aus! Die Idealität raphaelischer Formen erreicht er freilich nicht, trotzdem meine ich, er heimelt uns mehr an als Raphael, nur dass man ihn in Deutschland noch zu wenig kennt.

Auch der Gegensatz von Protestantismus und Katholizismus kann für uns um so weniger einen Grenzwall bilden, als Deutschland selbst halb katholisch ist. Und woher stammt überhaupt der Protestantismus, ist er nicht aus dem Katholizismus heraus gewachsen? Sein Kirchen sind noch bis heute zum grossen Teile katholischen Ursprungs, ihre äussere Erscheinung hat nichts Charakteristisches, einen spezifisch protestantischen Kirchenbaustil gibt es nicht, auch die protestantischen Kirchenmelodien stammen zum Teil noch aus katholischer Zeit. Man betrachte hingegen eine russische Kirche, mit ihren zwiebelartigen kettenbehangenen Kuppeln, man trete ein und blicke auf das sich fast gefängnissartig absperrende Allerheiligste, und wenn dann das Gospodi pomilui (Kyrie eleyson) erschallt, in tiefen Molltönen verhallend, da fühlt man sich wirklich in eine ganz fremde Welt versetzt.  Der Unter-

[S.163]

schied ist so gewaltig, dass Katholizismus und Protestantismus, oder Romanismus und Germanismus, wie in nichts dagegen verschwinden. Ob Welscher oder Deutscher, ob Katholik oder Protestant, — dem russischen Wesen gegenüber sind wir alle Lateiner.

Darum bewirkt auch schon die Kirche, dass die katholischen Slawen uns verwandt erscheinen. Durch ihre Sprache aber — die Sache tiefer betrachtet — sind sie uns nicht minder verwandt, und sollten wir darin weit eher ein Motiv der Verbindung als der Trennung finden. Oder sollte das etwa ein Fortschritt der Aufklärung sein, wenn wir jetzt alles Slawische ablehnen wollten, woran doch das alte Reich so wenig Anstoss nahm, dass der Herzog und spätere König von Böhmen zu den vornehmsten Reichsfürsten gehörte? Nach den Vorschriften, der goldenen Bulle waren, die Kurprinzen angehalten, neben der lateinischen und italienischen Sprache auch die slawische Sprache zu erlernen. Eine schon dadurch sehr wohl motivierte Verfügung, dass das ganze östliche Deutschland slawisches Blut in sich hat, und bis heute untrennbar mit dem Slawentum verwachsen ist. Warum also sollte nicht auch das Polentum in den mitteleuropäischen Bund eintreten können? Bedenken scheinen dann nur die dem griechischen Ritus anhängenden kleinen abwischen Völkerschaften an der unteren Donau zu  erregen,  desgleichen die Rumänen, dennoch werden sie uns einigermaßen verwandt durch ihr Streben nach individueller Gestaltung. Sie in diesem Streben zu unterstützen und damit gegen die Umarmung des Russentums zu schützen, welches sie alle zu einer umformen Masse umkneten will, müsste uns als dringende Pflicht gelten.

Russen sind nicht einfach Slawen, sie treten aus dem Slawentum als etwas Besonderes hervor. Selbst dem Blute mach durch ihre starke Vermischung mit finnischen Elementen, noch mehr infolge ihres mehrhunderjährigen Unterworfenseins unter die tatarische Herrschaft, wodurch ihr Volkscharakter eine innere Veränderung erfuhr. Sich eben so an rücksichtslose Gewaltsamkeit wie an knechtischen Gehorsam gewöhnend, wurde das Russentum selbst halb tatarisch. Hat es dazu die Verschmitztheit der Byzantiner angenommen, während es andererseits eifrig beflissen ist, sich aller materiellen Hilfsmittel der abendländischen Zivilisation zu bemächtigen, so ist es uns nur um so gefährlicher geworden, und steht uns um desswillen nicht minder als ein ganz fremdes Wesen gegenüber, welches gleichwohl seit Peter dem Grossen immer weiter nach Westen vorgedrungen ist. Asiatische Prinzipien bedrohen uns damit, denn Russland ist nicht europäisch, sondern, durch die in den kaspischen Binnensee mündende Wolga charakterisiert, ist es ein Zwischenglied zwischen Europa und Asien, und bildet eine eigene Welt für sich, die sich durch seine Handelssperre gegen das Abendland wie mit einer chinesischen Mauer umgibt, wie es auch noch heute seinen eigenen Kalender hat. Ist es nicht eine natürliche Folge, dass einem solchen Lande, welches in seiner geschichtlichen Entwicklung nichts mit dem abendländischen Europa gemein hat, darum auch

[S.164]

keine Einmischung in die Angelegenheiten desselben zustehen dürfte? Dass man ihm dieselbe trotzdem gestattet, hat mehr als alles Andere zur Zerrüttung des abendländischen Völkersystems beigetragen. Kein Heil für uns, oder Russland muss wieder zurück hinter die Düna und hinter den Dniester!

Welcher Staat schiene mehr berufen darauf hinzuwirken, und welcher Staat hat hingegen das russische Vordringen mehr befördert als Preussen durch dessen Geschichte seit anderthalb Jahrhunderten sich wie der rote Faden die Russenfreundschaft hindurchzieht. Es ist traurig zu sagen, aber die Tatsache liegt vor Augen. Je abschätziger man in Berlin über das ehemalige heilige römische Reich zu urteilen gewohnt ist, um so mehr gehört dort der Glaube an das  heilige Russland zu den Fundamentalartikeln der Politik. Wie ein Wesen höherer Art wird da Russland angesehen, dem zu dienen die höchste Ehre wäre, wenn man auch zum Dank dafür gelegentlich Fusstritte empfinge. Unvermeidlich, dass dadurch in das Preussentum selbst etwas Russisches eindrang. Was steht also zu erwarten, wenn nun wieder das Preussentum die Herrschaft über ganz Deutschland übt? Das wird ein schöner deutscher Geist sein, der sich unter solchen Auspizien entwickelt! Schamrot, sage ich vielmehr, müsste es Deutschland machen, dass es sich auf die Freundschaft des russischen Barbarenreiches stützen soll! Doppelt schamrot, weil wir selbst dadurch zu Mitschuldigen aller der Brutalitäten werden, die das Russentum verübt, in Polen sogar dicht vor unseren Augen. Dem neuen Reiche aber scheint das alles wenig Kummer zu machen, Russland bleibt doch sein allerbester Freund.

Noscitur es sociis, qui non congoscitur ex se.

Demnach, also auch seinerseits der deutschen Freundschaft sicher, durfte Russland getrost sein heutiges Spiel in der Türkei unternehmen, dessen Resultat kein geringeres ist, als dass fortan Russland die entscheidende Rolle in der sogenannten orientalischen Frage gewonnen hat. Eine Frage, die mehr als irgend eine die europäischen Gesamtinteressen berührt. Ach, wo bleibt angesichts dessen die weltgebietende Stellung, welche angeblich das neue Reich einnimmt, und um derentwillen ganz Deutschland zur Kaserne werden musste? Nun, mit der neudeutschen Weltmacht mag es immerhin noch seinen Haken haben, wäre diese Macht aber in Verbindung mit Österreich und England getreten, so hätten die orientalische Frage gewiss eine ganz andere Lösung gefunden. Meinerseits hatte ich solche Tripelallianz schon vor zwanzig Jahren in Vorschlag gebracht. Wäre sie damals zu Stande gekommen, so hätte heute wohl ganz Europa ein andres Aussehen.

Wer kennt nicht das Wort „l’empire c'est la paix", das neue deutsche Empire rühmt dasselbe von sich, ich frage aber: wie soll es wohl eine Friedensgarantie sein, wenn es selbst — wie früher bemerkt — sich überhaupt; keinen internationalen Beruf zuschreibt, sondern ausdrücklich sich nur mit seinen eignen Interessen beschäftigen will?  Und gehört es nicht offenbar zu den

[S.165]

allerdringendsten Bedürfnissen der Gegenwart, dass endlich wieder eine allgemein anerkannte Rechtsordnung der europäischen Staatsverhältnisse begründet werde, wohingegen alles, was heute besteht, bloss tatsächlich besteht, und die Garantie seines Fortbestandes nur in seinen eignen Machtmitteln findet? Daher die permanente Kriegsbereitschaft, die uns zuletzt in die Barbarei zurück zu stürzen droht.

Da ist keine Hilfe, ausser durch ein europäisches Föderativesystem welches aber selbst wieder nie zu Stande kommen kann, ausser es muss von Deutschland ausgehen, in dessen verschiedenen Volksstämmen sich gewissermaßen die verschiedenen europäischen Nationen abspiegeln, wodurch Deutschland von vornherein wie zur Föderation präformiert ist. Diese natürlichen Anlagen weiter ausgebildet, wird dann die deutsche Verfassung insofern der nordamerikanischen verwandt sein, und dürfen wir in Nordamerika wieder den typischen Ausdruck der neuen Welt erblicken, so bestätigt sich hier, was ich zu Anfang gesagt: dass Deutschland sich auch für die Lebensformen der neuen Welt empfänglich erweise. Andererseits aber, sich an alte Überlieferungen anschliessend, wird es die Lebensformen der neuen Welt mit denen der alten Welt verschmelzen, und darum in seiner föderativen Verfassung zugleich sein Fürstentum bewahren, worauf in Deutschland die Erhaltung der geschichtlichen Kontinuität beruht. Sich somit erhebend über die Alternative, die einst Napoleon der europäischen Zukunft gestellt: kosakisch oder republikanisch wird Deutschland der Boden sein, auf welchem der prinzipielle Widerstreit, der seit zwei Menschenaltern das ganze abendländische Europa durchzieht, und, der seinen prägnantesten Ausdruck in dem Gegensatz des jus divinum und der Volkssouveränität findet, — infolge dessen die Volker, schwankend zwischen Revolution und Reaktion, ihre Kräfte in inneren Kämpfen verzehren, — wo dieser Widerstreit durch Ausgleichung sein Ende findet, so dass dann von Deutschland die Wiedergenesung des europäischen Körpers ausgehen wird. Ganz dem entsprechend, was einst der sicher nicht zu Überschwänglichkeiten geneigte, sondern durchaus nach den Publizist Gentz, als sein Geist sieh noch nicht im Dienst der Reaktion abgestumpft, gesagt hat: Europa ist durch Deutschland gefallen, durch Deutschland muss es wieder emporsteigen.

Das wäre demnach die erste Weltaufgabe: internationale Organisation. Die andere — die soziale Organisation. Erscheint zwar diese letztere als die noch viel dringender, weil sie dem allgemeinen Verständnis näher liegt, und unmittelbar die Existenzbedingungen der Massen betrifft, so leuchtet doch ein, wie jede tiefgreifende soziale Reform unmöglich bleibt, so lange der aus dem Mangel einer internationalen Ordnung entspringende Militarismus den Völkern immer grössere Lasten auflegt, und die öffentlichen Gewalten in die Richtung dringt, dass ihnen die Militärorganisation für viel wichtiger gilt als die Organisation der Arbeit. Da zeigt sich ganz handgreiflich der un-

[S.166]

trennbare Zusammenhang der sozialen Frage mit der internationalen. Und nun sage ich, dass auch zur Lösung der sozialen Frage Deutschland als besonders berufen angesehen werden muss, indem auch dafür reine frühere Geschichte spricht. Denn wenn zwar das ganze Mittelalter sich dadurch charakterisierte, dass die Staatsverfassungen zugleich Sozialverfassungen waren, so ist es doch wieder Deutschland, wo solche Ordnung der Dinge zur reichsten Entwicklung kam. Man war damals der Ansicht, dass jedes Volkselement, wie seine eigentümliche Freiheitssphäre, so auch eine eigentümliche Ewerbssphäre haben und darin geschützt sein müsse. Dass dies zu jener Zeit auf Grundlage der Bevorrechtung geschah, lag in dem Gang der allgemeinen Entwicklung. Heute kommt es darauf an, einen solchen Zustand auf Grundlage der Rechtsgleichheit zu begründen.

Weiter aber bedarf es keiner Worte, wie diese beiden grossen Weltprobleme — die internationale und soziale Organisation — wiederum, nichts anders sind als die praktischen Forderungen des Christentums. Will die deutsche Nation sich als eine christliche bewähren, so folgt es dann unmittelbar, dass sie vor allem diese beiden grossen Probleme in Angriff zu nehmen, sich getrieben fühlen muss. Beides sind überstaatliche und übernationale Probleme, gerade wie das Christentum, weit über Staat und Nationalität hinausreicht. In der Idee des heiligen römischen Reiches lag dasselbe, es war eine überstaatliche und übernationale Bildung. Ist sie gleichwohl die dem deutschen Geiste am meisten entsprechende gewesen, so dürfen wir schliessen, dass auch in Zukunft der deutsche Geist dazu am meisten berufen sein wird. Darf er mit Recht sich seines Eindringens in die Tiefe und seiner universalen Konzeptionen rühmen, — hier, in den Fragen der internationalen und sozialen Organisation, mag er die Probe ablegen, wie weit seine Entwürfe reichen. Treffen sie wirklich den Kern der Sache, so werden sie sich allmählich auch weit und breit Geltung verschaffen. Ähnlich wie die deutsche Musik, werden dann auch die deutschen Rechtsanschauungen sich über die Welt verbreiten, und überall ihren bildenden Einfluss üben. Ein Kaisertum des deutschen Geistes wird das sein. Das einzige was eine Zukunft hat, das einzige was die Nation wirklich zu heben vermag.

Haben wir statt dessen ein kleindeutsches Militärkaisertum erhalten, welches seiner eigensten Natur nach darauf gerichtet ist, die ganze Nation in eine nach Armeecorps eingeteilte gleichartige Masse zu verwandeln, wodurch nicht minder der Fortbestand des deutschen Fürstentums untergraben ist, als das eigentümliche Leben der deutschen Volksstämme erlischt, so haben die Resultate der siebenjährigen Existenz dieser neuen Schöpfung auch selbst schon die Kritik derselben geliefert. Will sagen, durch den Rückgang auf dem Gebiete unsres wirtschaftlichen, wie des intellektuellen und moralischen Lebens, worin wir jetzt die Folgen der sogenannten grossen Erfolge geniessen. Zum deutlichen Zeichen, in welche Verirrung wir gerieten. Nicht die

[S.167]

internationale und soziale Organisation, sondern die Desorganisation, ist dadurch befördert, und darum das Bedürfnis in beider Hinsicht um so dringender geworden.

Klagen wir aber nicht bloss die Machthaber dafür an, dass die Gestaltung Deutschlands diese verfehlte Wendung nahm. Die Nation selbst hat es nicht anders gewollt und nicht besser gewusst. Es stand ihr fest, dass Deutschland an etwas Ähnlichem werden müsse wie etwa Frankreich, überhaupt ein abgeschlossener Nationalstaat. Seit lange war ihr das vorgeredet von ihren akademischen Gelehrten, die, statt ihre theoretischen Entwürfe aus der Untersuchung der eigentümlich deutschen Zustände und Aufgaben zu schöpfen, nichts weiter zu leisten vermochten, als die im Ausland aufgestellten Staatsdoktrinen, wohl oder übel, für den deutschen Hausgebrauch zuzurichten. Ganz natürlich dann, dass damit auch die Forderung einer Hauptstadt gegeben war, in der sich hinfort das Nationalleben konzentriert, wo man parlamentierte, Ministerkrisen präparierte und die Kurse regulierte. Das Pariser Vorbild war doch allzu reizend. Offenbar aber ein vollkommen undeutscher Gedanke, allein schon ausreichend um die Undeutschheit des ganzen Unternehmens zu erweisen. Denn grade im Zeitalter seiner Grösse hat Deutschland nie etwas gehabt, was einer solchen Hauptstadt auch nur entfernt ähnlich gesehen.

Frei über dem Ganzen schwebend, war damals die Reichsgewalt an keinen bestimmten Sitz gebunden. Sein ideales Zentrum fand ja das heilige römische Reich in Rom, und wie dies die Begründung einer deutschen Zentralstadt ausschloss, war damit umsomehr das Aufkommen vieler blühender, zur Autonomie aufstrebender Städte ermöglicht, wie überhaupt der mannigfaltigsten spontanen Bildungen, auf deren Nachwirkungen noch heute der innere Reichstum deutscher Kultur beruht. Das selten die gotischen Geschichtsschreiber, die uns über das Wesen deutscher Nationalentwicklung belehren wollen, erst erwogen haben, ehe sie sich herausnahmen, über das alte Reich, von dessen tieferem Sinn sie ersichtlich nichts verstanden, schulmeisterlich abzusprechen. Um wie viel richtiger hat einst selbst Fichte darüber geurteilt, indem er mit Rücksicht darauf in seinen Reden sagt:
„Jene Zeit war der jugendliche Traum der Nation, in beschränkten Kreisen, von künftigen Taten, Kämpfen und Siegen, und die Weissagung: was nie einst bei vollendeter Kraft sein würde….. Bringe nun diese Nation, nur zuvörderst zurück von der falschen Richtung, die sie ergriffen. Zeige man ihr, in dem Spiegel jener ihrer Jugendträume, ihren wahren Hang und ihre wahre Bestimmung, bis unter diesen Betrachtungen sich ihr die Kraft entfalte, diese ihre Bestimmung mächtig zu ergreifen.”

Wer Deutschlands Vergangenheit nicht versteht, versteht auch nicht die Ziele seiner zukünftigen Entwicklung anzugehen. Nicht einmal das hat man also erkannt, dass Deutschland überhaupt nie ein Staat gewesen, noch jemals ein solcher werden kann, weil es von vornherein ein aus sehr verschiedenen, ein selbständiges Leben beanspruchenden, Elementen zusammen-

[S.168]

gesetzter Körper war und ist. Ein Körper, für dessen Gestaltung und Betätigung darum auch nicht die eigentlichen Staatsfragen, sondern in erster Stelle vielmehr die internationalen wie die sozialen Aufgaben massgebend sein mussten, zu deren Behandlung der deutsche Geist am meisten beanlagt und berufen ist. Ein Staatmensch, wozu ihn die akademische Theorie machen wollte, ist der Deutsche nicht, der Staat hat für ihn nur eine sekundäre Bedeutung. Man hat aber die Sache umgekehrt, indem man prinzipaliter auf Staatsverfassungen ausging, in deren Ausbildung die praktische Tätigkeit der Nation sich konzentrieren sollte, indessen die internationalen wie die sozialen Fragen weit in den Hintergrund traten. So von unsrer wahren Bestimmung abgelenkt, gerieften wir in eine Richtung, in der sich hervorzutun das Deutschtum am allerwenigsten beanlagt und berufen ist, und wodurch gerade den dringendsten Bedürfnissen kein Genüge zu leisten war. Denn wie wenig bei unsrem Parlamentarismus herauskam, dürfte allmählich allgemein empfunden werden.

Sollte nun Deutschland zu einem Staat umgestaltet werden, so war das freilich nur mittels des preussischen Säbels durchzusetzen. Was aber konnte daraus hervorgehen? Nichts anderes als das hölzerne Eisen eines königl. preussischen deutschen Kaisertums, oder — wie die landläufige Phrase lautete — eine deutsche Einheit mit preußischer Spitze. Ich meine doch, eben die Spitze müsste von ausgesprochenster Deutschheit sein, damit das ganze Gebäude einen deutschen Eindruck machte. Oder sollte etwa die preussische Spitze, die sich augenfällig als Pickelhaube präsentiert, nur als Blitzableiter dienen? Ernsthaft aber gesprochen —, was ist so klar, als dass grade Preußen, welches seit zwei Jahrhunderten, im fortschreitenden Heraustreten aus dem ehemaligen Reichsverband, sich zu einem speziellen Wesen gestaltete, infolge dessen auch — selbst wenn es den besten Willen dazu hätte — jedenfalls nicht die innere Fähigkeit besitzen könnte, ein neues Deutschland zu begründen? Deutschland zu borussifizieren — weiter vermag es nichts. Somit unternehmend, wozu es weder berufen noch befähigt war, hat das Preussentum um desswillen seine wahre Aufgabe verfehlt, d. i. die Zurückweisung Russlands in seine Grenzen, was eben nur durch Preussen möglich wäre, welches aber vielmehr selbst den Anwachs der russischen Macht befördert hat.

Ist trotzdem dies Alles unter dem Beifall so vieler unsrer akademischen Gelehrten gesehen, so haben dieselben damit nur bewiesen, dass sie nicht einmal wußten, was überhaupt deutsch ist. Und wirklich scheinen dies bis heute nur Wenige zu wissen. Denn wie die deutsche Kunst so lange unter dem Banne ausländischer Vorbilder und Regeln gestanden, so noch mehr unsere politisches Denken. Es ist endlich Zeit, darüber zum Bewusstsein zu kommen, wenn nicht alles Gerede von Nationalentwicklung den Tatsachen gegenüber zur Satire werden soll. Damit sich also eine wirklich deutsche politische Wissenschaft entwickle, müssen wir, statt uns in Staatstheorien zu

[S.169]

versuchen, vielmehr auf das Vorbild des heiligen römischen Reiches zurückblicken, welches eben nur dadurch an verstehen ist, dass Deutschland als ein überstaatliches und übernationales Wesen erkannt wird. Allein die Idee eines solchen über Staat und Nationalität hinausgehenden Gemeinwesens, welches erst im spezifischen Sinne Reich zu nennen ist, war nach Leibnitz der deutschen Wissenschaft gänzlich abhanden gekommen, sie musste erst wieder entdeckt werden. Inzwischen wusste man es nicht anders mehr, als dass schon der Staat das höchste Gemeinwesen, und darum auch Deutschland, wohl oder über, in die Staatsform zu bringen sei. Das führte dann zu dem heute sogenannten Reiche, welches aber in Wahrheit sich vielmehr als ein nur noch nicht ganz fertiger Staat darstellt. Und obwohl Niemand an den dauernden Fortbestand dieser neuen Schöpfung einen rechten Glauben hat, ist man eifrig beflissen, dieselbe zum eigentlichen Staat auszubilden. Darin liegt — die Sache prinzipiell, betrachtet — der Kern der ganzen deutschen Frage, die eben deswegen noch immer eine Frage geblieben ist. Eine Frage, welche zum Verständnis zu bringen um desswillen so schwer ist, weil man dabei zugleich auf das Gebiet der europäischen Politik gerät, und vorweg erst alle die fälschen Begriffe zu beseitigen sind, welche sich durch die bisherige Doktrin in den Köpfen festgesetzt haben. Ich weiss aus eigner Erfahrung, wie viele Jahre es mich gekostet, darüber ins Klare zu kommen.

Hiernach Alles in Einem zusammengefasst: um wirklich deutsch zu sein muss daher die Politik über sich selbst hinaus gehen. Sie muss sich zur Metapolitik erheben, als welche sich zur gemeinen Schulpolitik ähnlich verhält, wie zur Physik die Metaphysik. Unser Deutschtum geht uns dabei nicht verloren. Im Gegenteil, je mehr wir uns den allgemeinen Aufgaben, menschheitlicher Entwicklung zuwenden, um so freier kann es sich entfalten, und um so edler wird es sich gestalten, sich emporringend zu den höchsten Ideen des menschlichen Geistes.

Das nenne ich deutsche Politik.

Damit schliessend, glaube ich die Zusage erfüllt zu haben, womit ich die vorstehenden Erörterungen begann: dass dieselben nicht allzu weit von dem Gebiete abführen würden, dessen Betrachtung die Bayreuther Blätter gewidmet sind. Denn die Kunst in dem universalen Sinne aufgefasst, wozu Sie, hochgeehrtester Herr, durch Lehre und Beispiel selbst eine neue Bahn gebrochen, und wonach die Kunst keine abgesondert für sich bestehende Betätigung des menschlichen Geistes, sondern der Spiegel sein soll, in welchem sich das ganze Geistesleben der Nation reflektiert, so wird die wahre deutsche Politik der deutschen Kunst auch erst die rechte Stätte bereiten, wie andererseits die Kunst die Politik beflügeln wird zu immer höherem Aufschwung. Hoffen wir, dass es einst so geschieht!

Inzwischen erübrigt mir nur noch der Wunsch, dass die jetzt von Ihnen begründete und zunächst zwar nur der Kunst gewidmete Zeitschrift zugleich

[S.170]

doch zu einem Stütz- and Sammelpunkt werde für alle idealen Regungen auf dem Boden unseres Nationallebens. Und möchte Ihnen bei diesem literarischen Unternehmen, wobei Sie freilich nicht umhin konnten, auf den Beifall oder die Unterstützung der heute tonangebenden Kreise von vornherein zu verzichten, um desswillen nicht minder dasselbe gelingen, was Ihnen auf dem künstlerischen Gebiete gelang, wo Sie zur Ausführung zu bringen wussten, was nur Wenige für möglich gehalten. Sollte nicht auch in der politischen Gestaltung und Betätigung Deutschlands sich noch vieles verwirklichen, was vorläufig den Kluggeistern von heute nur wie ein Fiebertraum erscheinen mag? Unser Zeitalter lebt schnell, es ist das Zeitalter der Katastrophen, der Enttäuschungen und der Überraschungen. Bald vielleicht wird die Zukunft lehren, wer der Wache und wer der Träumer gewesen.

Constantin Frantz.

























No comments:

Post a Comment